Predigt im Ökumenischen Pilgergottesdienst in Tarsus am 21. Oktober 2010

 

 

Liebe ökumenische Pilgergemeinde in Tarsus,

der Geburtsstadt des Apostels Paulus!

 

Wer war eigentlich dieser Paulus,

der uns im Neuen Testament so entschieden, aber auch so zwiespältig begegnet – so stark, aber auch so schwach – so enthusiastisch, aber auch so nüchtern?

 

Die Lebensdaten sind rasch erzählt:

geboren um 9 nach Christus eben hier in Tarsus,

von Beruf Zeltmacher wie sein Vater und als junger Jude so wissbegierig, dass man ihn bald schon nach Jerusalem reisen ließ, damit er sich dort einen Lehrer suchte,

um selber einmal Schriftgelehrter werden zu können.

Als solcher gerät er dann in einen scharfen Konflikt mit der sich entwickelnden Christengemeinde;

ja, es wird gar berichtet, dass er mit großem Eifer die Christen verfolgte.

 

Dann, etwa um das Jahr 33, das sogenannte Damaskuserlebnis:

In einer Vision begegnet ihm Jesus, der ihn fragt: „Warum verfolgst Du mich!“.

Dieses Ereignis verändert sein Leben von Grund auf –

in dem Spruch vom „Saulus zu Paulus werden“ ist es sprichwörtlich geworden.

 

Paulus lässt sich taufen, verbringt eine Zeit in der Einsamkeit, nimmt Kontakt zur christlichen Urgemeinde in Jerusalem auf und wird schließlich –

nach einem wohl recht heftigen Meinungsaustausch u.a. mit Petrus –

zum Völkerapostel der jungen Christenheit, der auf drei großen Missionsreisen Gemeinden in Kleinasien und Europa gründet.

 

Schließlich kommt er nach Rom.

Dort stirbt er unter Kaiser Nero um das Jahr 60 eines gewaltsamen Todes.

 

Nun sind wir heute in Tarsus, und da ist es angemessen, die Bedeutung dieser Stadt für den Werdegang des Paulus zu würdigen:

Denn in der Tat war diese Herkunft für Paulus in mehrfacher Hinsicht prägend,

denn Tarsus war eine überaus angesehene Stadt:

Provinzhauptstadt des Römischen Reiches und berühmt als Bildungszentrum.

Als hier geborener Sohn eines römischen Bürgers spricht er ein hervorragendes Griechisch: die Umgangs- und Weltsprache des ganzen Mittelmeerraumes;

und er besitzt das römische Bürgerrecht –

damals so eine Art „green card“ in der von den Römern beherrschten Welt.

 

Zudem war Tarsus geradezu ein Umschlagplatz der damals gängigen Philosophien und Kulte: stoische Ethik, kosmologische Spekulationen, die Bedürfnislosigkeit der Kyniker, der mitreißende Mithraskult, dazu das alte und stolze Diasporajudentum – all das war präsent hier in Tarsus und es prägte auch den Bürger Paulus.

 

Nun war dieser Paulus ein sehr ehrgeiziger und eifriger Mensch.

Und dieser Eifer hatte ihn wohl auch zum Verfolger der ersten Christen gemacht.

Nach seiner Lebenswende gelang es ihm dann aber, seinen Eifer zu kultivieren:

vom unerbittlichen Kämpfer gegen religiös Andersdenkende wurde er zum Verkünder der grenzenlosen Liebe Gottes,

vom Ausgrenzer wurde er zum Fürsprecher der Ausgegrenzten.

 

In dieser Mission war er fortan unterwegs und bereiste mit unglaublicher Energie die damals bekannte Welt, legte im Lauf der Jahrzehnte ungefähr 30 000 Kilometer zu Land und zu Wasser zurück, fuhr nach Zypern, reiste mehrmals in die verschiedenen Regionen Kleinasiens und später dann eben auch nach Europa –

 

Paulus, ein Missionar der Liebe Gottes zu den Menschen, zu allen Menschen.

 

Ganz zu Beginn dieser Reisetätigkeit kam Paulus in die Großstadt Antiochia,

das heutige türkische Antakya, wo eine Christengemeinde entstanden war,

die sich erstmals nicht aus ehemaligen Juden, sondern aus früheren Heiden zusammensetzte.

 

Das führte zu der Streitfrage, ob Heiden, die Christen werden wollten, zuvor erst noch Juden werden müssten.

Paulus entlarvte diesen Konflikt als Angriff auf die Freiheit des christlichen Glaubens, die er als das eigentlich Revolutionäre des neuen Glaubens ansah:

 

„Wo der Geist Gottes wirkt, da ist Freiheit“, so lautete sein Credo.

 

Zur Klärung dieser für die zukünftige Entwicklung des Christentum zentralen Frage suchte er Petrus, Jakobus und Johannes in Jerusalem auf;

und obwohl dort „ein heftiger Streit entstand“, einigten sie sich schließlich doch darauf, den vom Heidentum zum Christentum Bekehrten „keine weitere Last aufzuerlegen“.

 

Somit wurde Antiochia, das heutige Antakya, wo man die „Anhänger des neuen Weges“ zum ersten Mal Christen nannte, zum Ausgangspunkt des Christentums als Weltreligion und Paulus zum führenden Kopf einer Kirche, die Jesu Botschaft von dem menschenfreundlichen und gnädigen Gott bis an die Grenzen der Erde zu tragen.

 

Auch ohne Internet verstand es Paulus schon damals meisterlich,

ein Netzwerk zwischen den verschiedenen christlichen Gemeinden aufzubauen,

so weit entfernt voneinander sie auch gelegen waren –

Paulus, also nicht nur ein Missionar der Liebe Gottes zu den Menschen,

sondern auch ein Meister der Vernetzung, des Dialogs und der Kommunikation.

 

Nun stehen fast 2000 Jahre Geschichte zwischen uns und ihm,

dem hier in Tarsus Geborenen.

 

Vieles hat sich seitdem geändert; und dennoch ist das, was Paulus getan und gesagt hat auch für uns bedeutsam und hilft uns, im jeweiligen Hier und Jetzt glaubwürdige Gemeinde Jesu Christi zu sein – und dazu gehört eben auch die bleibende Bedeutung der Region, in der sich dies alles vollzogen hat:

 

Hier, auf dem Gebiet der heutigen Türkei entwickelte sich inhaltlich und konzeptionell das Christentum zur Weltreligion.

Und hier, vom Gebiet der heutigen Türkei aus folgte der Apostel Paulus dann auch dem Ruf nach Europa und setzte damit eine Geschichte von großer Dynamik in Gang; heute ist die europäische Geschichte und Kultur ohne das Christentum gar nicht verstehbar.

 

Aber von diesem Europa gingen auch die großen Trennungen der Christenheit aus:

die Trennung zwischen Ost- und Westkirche im Jahre 1054

und die Folgen der Reformation des 16. Jahrhunderts.

 

Bei nicht wenigen Christen wächst heute die Ungeduld und sie fragen:

Muss es für alle Zeiten bei diesem getrennten Nebeneinander bleiben?

Zwischen evangelischen und katholischen Christen.

Zwischen östlicher Orthodoxie und westlich geprägtem Christentum. 

 

Andererseits aber ist die entstandene Vielfalt der Christenheit eben auch ein Ausdruck der notwendigen Auseinandersetzung um die Wahrheit.

Und wo allzu stark auf Einheit gedrängt wird, da wird auch allzu leicht diese Auseinandersetzung unterdrückt.

 

Von daher ist die Einheit der Kirche notwendigerweise eine Einheit in Vielfalt:

eine Einheit in Vielfalt, in der die unterschiedlichen Traditionen einander gleichberechtigt sind; eine Einheit in Vielfalt, in der das je eigene Profil der Kirchen im Bewusstsein des Gemeinsamen gleichsam geborgen ist; eine Einheit in Vielfalt,

die aber auch das gemeinsame christliche Glaubenszeugnis erkennen lässt.

 

Das ist das bleibende ökumenische Credo des Paulus; und Gott sei Dank ist bei den Kirchen hier in der Türkei etwas von dieser ökumenischen Sehnsucht zu spüren.

Hier – in der Situation als winzig gewordene Minderheiten – ist allen Kirchen klar:

Wir können unserem Auftrag überhaupt nur dann gerecht werden, wenn wir möglichst vertrauensvoll zusammenwirken.

 

In dieser ökumenischen Sehnsucht wissen wir uns verbunden mit dem im Evangelium gerade gehörten Gebetswunsch Jesu:

"Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein ...

auf dass die Welt glaube".

 

Und darum sind uns auch die Momente, in denen wir uns – wie in diesem Gottesdienst – dieser Verbundenheit vergewissern, so wichtig.

Darum ist es wichtig, immer wieder gemeinsam zu entdecken und zu bekennen,

wer die Mitte unseres gemeinsamen Glaubens ist und was das für uns bedeutet –

für uns Evangelische, für uns Katholische, für uns Orthodoxe –

für uns Christen.

 

Denn keine Kirche ist Selbstzweck.

Kirche hat den Auftrag, wie Paulus an der Begegnung Gottes mit den Menschen mitzuwirken, ja sie ist selber Teil dieses Aufbruchs Gottes zu den Menschen hin.

 

Sicher ist den Kirchen hier in der Türkei,

wo sie bis heute manchem scharfen Gegenwind standhalten müssen, das kostbare Gut eines verlässlichen ökumenischen Miteinanders besonders bewusst.

 

Aber wir alle spüren dabei: dieses Miteinander stärkt auch uns selbst –

es stärkt unsere Gemeinden und es stärkt unseren Glauben.

 

Wo wir aus unterschiedlichen Kirchen uns gegenseitig aufmerksam wahrnehmen,

da wachsen wir miteinander und aneinander.

 

Wo wir miteinander Gottesdienst feiern oder an den Gottesdiensten der anderen teilnehmen, da entdecken wir den Reichtum der unterschiedlichen Traditionen.

 

Wo wir uns miteinander für Menschen einsetzen und zu helfen versuchen,

da spüren wir etwas von der Kraft Gottes, die uns gemeinsam zur tätigen Nächstenliebe bewegt.

 

Wir sind einig und eins im Zeugnis von Gottes Liebe zu den Menschen in Christus.

Und diese Gemeinsamkeit ist allemal stärker als alles, was uns unterscheidet.

In Jesus Christus ist schon versöhnt, was sonst notwendigerweise verschieden ist.

In dieser versöhnten Verschiedenheit werden Unterschiede anerkannt und als Ergänzung und Bereicherung erfahren.

 

Denn wir werden verschieden bleiben – Gott sei Dank.

So verschieden wie schon die Jünger Jesu und wie die allerersten Gemeinden in seiner Nachfolge – viele davon auf dem Gebiet der heutigen Türkei, gegründet von Paulus aus Tarsus.

 

Und daher war und ist und bleibt das Christentum – noch einmal anders als der Islam in Deutschland, der durch die Zuwanderung vieler Muslime in den vergangenen Jahrzehnten zu einem dauerhaften Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden ist – ganz „zweifelsfrei ein Teil der Türkei“.

 

Hier sind große Teile des Neuen Testament geschrieben worden,

hier wurde es zur Weltreligion entwickelt,

hier sind die Schauplätze der frühkirchlichen Grundentscheidungen.

 

Aber auch heute sind Christen und ihre Gemeinde und Kirchen Bestandteil dieses Landes; und immer mehr Menschen in der Türkei erkennen und sagen das auch,

wie sehr die massenhafte Auswanderung von Christen in den vergangenen hundert Jahren der Entwicklung dieses Landes geschadet hat.

 

Als Christen deutscher Sprache in der Türkei erleben wir uns hier n besonderer Weise als ein Bestandteil der bunten Vielfalt der einen Christenheit.

Dieses Bewusstsein der Zugehörigkeit zu der einen Kirche Jesu Christi und das Erleben der Kirchen- und Theologiegeschichte in dieser Region geben unserem Glauben besondere Kraft und Weite.

 

Und gemeinsam mit den einheimischen Christen hier in der Türkei sehnen wir uns nach vollständiger Religionsfreiheit.

 

Diese vollständige Religionsfreiheit ist freilich mehr als Toleranz, sie sind weder ungefähr das Gleiche noch nur qualitativ unterschiedliche Stufen derselben Grundidee.

 

Während Toleranz obrigkeitlich gewährt oder eben auch versagt wird, meinen wir mit Religionsfreiheit einen unveräußerlichen Rechtsanspruch – einen Rechtsanspruch sowohl des Einzelnen wie einen Rechtsanspruch der religiösen Gemeinschaft;

während sich Toleranz auf einen begrenzten Kreis religiöser Gruppen beschränken kann, ist der Anspruch der Religionsfreiheit universal und unteilbar;

und während im Rahmen einer religiösen Toleranzpolitik Rangabstufungen zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften möglich sind, ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit mit dem Anspruch diskriminierungsfreier Gewährleistung verbunden.

 

In einer den Menschenrechten verpflichteten freiheitlichen Gesellschaft ist Religion eben nicht nur Privatsache.

Dass sich religiöse Überzeugungen und religiöses Leben auch öffentlich sichtbar darstellen können, und Religionsgemeinschaften ihre internen Angelegenheiten im Rahmen der geltenden Gesetze eben auch intern regeln können,

ist vielmehr Bestandteil der von uns eben auch in der Türkei ersehnten völkerrechtlich verbürgten Religionsfreiheit.

 

Dabei muss es uns Christen mit einer gewissen Demut erfüllen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass nirgendwo im langen historischen Prozess der Entwicklung der Menschenrechte die Kirchen als Institutionen, und schon gar nicht ihre Leitungsorgane zur Avantgarde politischer Freiheit und erst recht nicht der Religionsfreiheit gehört haben –

Trotz des paulinischen Credos: „Wo der Geist Gottes wirkt, da ist Freiheit.“

 

Die Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen Entwicklungs- und Lernprozesses. Und sie ist zunächst nicht aus theologischer Erkenntnis, sondern aus eigenen Unrechtserfahrungen erwachsen.

Von daher gibt es keinen Grund dafür, aus einer Haltung christlicher Überlegenheit oder gar christlicher Überheblichkeit die Lage der Religionsfreiheit z.B. in der Türkei zu betrachten.

 

Auf diesem Hintergrund gibt es heute gerade für uns Christen keine Alternative zum Eintreten für die Religionsfreiheit – und zwar für alle und an allen Orten; nur so ist dieses Engagement glaubwürdig.

 

Und das heißt ganz konkret und unteilbar:

für Christen in der Türkei genauso wie für Muslime in Deutschland.

Dafür wollen wir eintreten – mit der Beharrlichkeit eines Paulus –

nicht eifernd und kämpfend –

sondern als Meister der Vernetzung, des Dialogs und der Kommunikation

und vor allem als Missionare der Liebe Gottes zu den Menschen, zu allen Menschen.

 

Amen.

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